Denkmal

Unausgeführtes Alpendenkmal von Bruno Taut 1919

Eingabe 26_JM | Historiker*in

Begründung

«VÖLKER EUROPAS! BILDET EUCH DIE HEILIGEN GÜTER – BAUT! SEID EIN GEDANKE EURES STERNS, DER ERDE, DIE SICH SCHMÜCKEN WILL – DURCH EUCH!»

Diese Worte setzte der Berliner Architekt Bruno Taut in Grossschrift über das zentrale sechzehnte Blatt eines Zyklus von Zeichnungen, den er am Ende des Ersten Weltkriegs entwarf und publizierte. Nach dem flammenden Aufruf erläuterte er sein Vorhaben folgendermassen: «Ein fester Plan wurde begonnen, begrenzt und – bescheiden: wo  die höchste Alpenkette vom Montblanc her im Monte Rosa über die italienische Ebene herausragt, im inneren Bogen des Gebirgszuges – da soll die Schönheit erstrahlen. Der Monte Rosa und sein Vorgebirge bis zur grünen Ebene soll umgebaut werden. Ja, unpraktisch u. ohne Nutzen! Aber sind wir vom Nützlichen glücklich geworden? – Immer Nutzen und Nutzen: Comfort, Bequemlichkeit, – gutes Essen, Bildung – Messer, Gabel, Eisenbahnen, Closets und doch auch -- Kanonen, Bomben, Mordgeräte!»1

Der Erste Weltkrieg war in der Tat mörderisch. Er forderte Millionen von Toten. Bruno Taut nannte seine dreissig mit Texten erläuterten Zeichnungen Alpine Architektur und verstand sie als friedensstiftende Tat: «Ihr Kern ist eine pazifistische Idee, ich will damit den Krieg bekämpfen», schrieb er am 15. April 1918 an seinen Bruder Max, wenige Wochen nachdem die deutschen Truppen an der Westfront neu in die Offensive gegangen waren.2

Das phantastische Denkmal, das Taut als Gegenmittel zu den Kriegsgräueln imaginierte, bestand aus einer gewaltigen Überbauung der Alpen mit «Glasarchitektur» von funkelnder Schönheit, konzentriert im Gebiet der höchsten Gipfel vom Montblanc bis zu den Tessiner Bergen. Der Monte Rosa sollte zum Beispiel von den Rundbögen einer grossen «Glocke» überwölbt werden, der Lyskamm und das Breithorn erhielten im Taut'schen Entwurf aufstrebende Pfeiler und bizarre Ornamente, das Matterhorn wurde an den Flanken und auf der Spitze mit Prismen verziert. Vom Monte Generoso betrachtet sahen die kristallinen Bauten aus wie eine «Bergbekrönung», welche die an der künstlerischen Grosstat mitwirkende Bevölkerung von ihrer harten Realität erlösen sollte: «Flugzeuge und Luftschiffe fahren Glückliche, die froh sind, von Krankheit und Leid durch Anschauen ihres Werkes befreit zu sein – in seligen Augenblicken. Reisen! und auf der Reise das Werk entstehen und erfüllt zu sehen, an dem man als Arbeiter irgendwie im fernen Lande mitgewirkt hat! Unsere Erde, bisher eine schlechte Wohnung, werde eine gute Wohnung.»3

In seinem Berufsleben zählte Bruno Taut (1880–1938) zu den profilierten Vertretern des Neuen Bauens. Er entfaltete eine reiche Bau- und Lehrtätigkeit und wurde nach dem Ersten Weltkrieg vor allem durch die Errichtung von reformorientierten Grosssiedlungen in Berlin bekannt, bevor ihm die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 die weitere Berufsausübung verunmöglichte und ihn aus Deutschland vertrieb. Seine Flucht führte zuerst in die Schweiz, wo er die Alpen wahrscheinlich erstmals mit eigenen Augen sah, und dann weiter nach Japan, wo mitten im Zweiten Weltkrieg seine utopische Alpine Architektur auch auf Japanisch erschien. Heute gilt dieses Werk mit seinem bis «zur Künstler-Religion gesteigerten moralischen Programm» als ein Schöpfungsbuch des deutschen Funktionalismus. Gestorben ist Taut 1938 in der Türkei, die ihm einige Jahre zuvor eine Professur für Architektur in Istanbul anbot.

In den zwei beigelegten Abbildungen finden Sie eine Vogelperspektive und einen Grundriss des Denkmals von Bruno Taut mit den zitierten Texten. Mein Abänderungsvorschlag betrifft das markierte Wort «Europas» im Grundriss. Hinzuweisen ist auf die Tatsache, dass sich das Alpenprojekt auf einem Sockel erhebt. «Sockel» ist ein Begriff für geologisch vergleichsweise altes Gestein, das den Untergrund für relativ jüngere, auflagernde Sedimentabfolgen bildet.

Und hier die Begründung des Vorschlags in fünf Punkten:

  1. Grundsätzlich sollten wir im Umgang mit Denkmälern den aus der postkolonialen Debatte hervorgegangenen methodischen Prämissen einer symmetrischen Anthropologie folgen – das heisst: Beurteilung von Akten und Akteur:innen «auf Augenhöhe».
  2. Zeitlich-historische Symmetrie: Gibt es in der Schweiz Denkmäler, die in demokratischen Entscheidungsprozessen entstanden sind? Nicht nur mit allfälligen Abstimmungen über Varianten von schon beschlossenen Projekten, sondern Demokratie «ab ovo». Es ist anzunehmen, dass solche Fälle – falls überhaupt vorhanden – eine verschwindend kleine Minderheit bilden. Demnach sollte man kein besonderes Aufheben machen, wenn Denkmäler wieder auf ebenso zweifelhafte Weise verschwinden, wie sie entstanden.
  3. Die meisten Denkmäler bleiben im Alltag unbeachtet. Die Leute gehen achtlos daran vorbei – können das aber nicht geradlinig tun, sondern müssen die Denkmäler mühevoll umrunden, weil es sich in aller Regel um Verkehrshindernisse handelt. Aufgrund des geringen Beachtungsgrads sind die Denkmäler für das alltagshistorische Bewusstsein so gut wie irrelevant. Es gibt Ausnahmen (etwa das Bach-Denkmal in Leipzig oder das Puschkin- Denkmal in St. Petersburg). Doch ich würde wetten, dass die meisten Mitarbeitenden im «Haus der Akademien» nicht wissen, in welchem Jahrhundert der Bubenberg auf dem hundert Meter entfernten Denkmal lebte ... im 13.? 16.? 14.? oder war es das 15.?
  4. Es gibt zahlreiche unausgeführte Denkmäler. Vermutlich sind sie sogar in der Überzahl. Sie stellen keine Verkehrshindernisse dar. Wer sie aufsuchen will, muss sich wirklich damit befassen. So tragen sie zu einem Forschungs- und Erkenntnisprozess bei. Schon das Symmetriegebot würde uns freilich dazu anhalten, sie auf den gleichen Sockel zu stellen wie die ausgeführten Denkmäler.
  5. Alles spricht also für Bruno Tauts unausgeführtes Alpendenkmal. Allerdings muss man es hundert Jahre nach seiner Entstehung in einem Punkt abändern. «VÖLKER EUROPAS!» Diese Adressierung ist heute fragwürdig geworden. Sie steht für einen hochimperialistischen und gerade frisch gescheiterten Kontinent. Ich schlage vor, dass wir gemeinsam darüber nachdenken (in einem Seminar, Workshop etc.), an wen sich das Denkmal richten soll.

Quellen

  1. Bruno Taut, Alpine Architektur in 5 Teilen und 30 Zeichnungen, Hagen 1919. Ich stütze mich vor allem auf die gründlich recherchierte und kommentierte zweisprachige Ausgabe von Matthias Schirren, Bruno Taut, Alpine Architektur. Eine Utopie – A Utopia, München 2004; das Zitat auf S. 72 und 75.
  2. Schirren 2004 (wie Anm. 1), S. 122.
  3. Schirren 2004 (wie Anm. 1), S. 76-85.
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