Denk­mal

Do­ro­thee Flüe Wyss

Ein­ga­be 79_SW | Stel­la Ste­js­kal, Leh­re­rin und Lehr­mit­tel­au­torin und Re­gi­na Witt­wer, Gra­fi­ke­rin

Be­grün­dung

«Man ist nicht als Frau ge­bo­ren, man wird es», kon­sta­tier­te Si­mo­ne de Beau­voir in ihrem Klas­si­ker des mo­der­nen Fe­mi­nis­mus. Der Ge­dan­ke, dass das Frau­sein ein Pro­dukt kul­tu­rel­ler Pro­zes­se ist und nicht na­tür­lich ge­ge­ben, war 1949, als «Das an­de­re Ge­schlecht» ver­öf­fent­lich wurde, re­vo­lu­tio­när und sehr kon­tro­vers.

Beau­voirs Ideen sind ak­tu­ell, denn ob­wohl Frau­en sich in den letz­ten 60 Jah­ren vie­ler­orts auf der Welt eman­zi­piert haben und vor dem Ge­setz Män­ner und Frau­en gleich­be­han­delt wer­den, sind viele ste­reo­ty­pe Rol­len­bil­der immer noch nicht ab­ge­legt. Die Sta­tue von Do­ro­the Wyss ist nur ein Bei­spiel dafür und muss aus die­sem Grund ver­än­dert wer­den.

Lange Zeit waren Frau­en Wesen im Schat­ten, duld­sa­me, hei­lig­mäs­si­ge, en­gels­glei­che, zarte, zer­brech­li­che Ge­schöp­fe, die ihren Män­nern den Rü­cken frei­hiel­ten und ihnen die Bühne be­rei­te­ten. Eine Bühne, die den Frau­en selbst lange ver­wehrt blieb. Waren sie nicht hei­lig­mäs­sig, so gal­ten sie als Femme fa­ta­le oder Muse – im schlimms­ten Fall als Hexe oder Schlam­pe. Jede Be­zeich­nung, die einer Frau zu­ge­wie­sen wurde, ori­en­tier­te sich am Nut­zen, den sie für den Mann hatte.

Es gibt bio­lo­gi­sche Un­ter­schie­de zwi­schen den Ge­schlech­tern, dar­über be­steht kein Zwei­fel. Das Macht­ge­fäl­le zwi­schen den Ge­schlech­tern hin­ge­gen ist eine Folge un­se­rer Kul­tur, wel­che über lange Zeit von Män­nern do­mi­niert wurde. Freuds Psy­cho­ana­ly­se und der von ihm kon­zi­pier­te Pe­nis­neid sind dafür ein ein­drück­li­ches Bei­spiel. Er geht davon aus, dass es Frau­en, weil sie kei­nen Penis haben, un­be­wusst so er­scheint, als würde ihnen etwas Wich­ti­ges feh­len. Die­sem ab­so­lut männ­li­chen Kon­zept liegt die An­nah­me zu­grun­de, dass jeder «nor­ma­le» Mensch einen Penis be­sitzt – wer kei­nen hat, ge­hört eben nicht zur Norm, son­dern zu den an­de­ren.

Ein wei­te­rer Ein­fluss­fak­tor sind Re­li­gio­nen. Seit es Re­li­gio­nen gibt, haben sie Den­ken und Han­deln der Men­schen be­ein­flusst. Die meis­ten Re­li­gio­nen stel­len ein­deu­tig klar, dass Frau­en we­ni­ger wert sind als Män­ner. Im Chris­ten­tum zum Bei­spiel gel­ten Frau­en als fleisch­lich und sün­dig, als die Ur­he­be­rin­nen der Erb­sün­de.

Ge­schich­te, Re­li­gi­on und Kul­tur legen also fest, was eine Frau ist oder sein soll. Wie wir in Be­zie­hung mit­ein­an­der um­ge­hen, spie­gelt sich eins zu eins in un­se­rem Um­gang mit der Welt. Das ist das Drama des Pa­tri­ar­chats, in des­sen Aus­läu­fern wir heute leben. Es ist die Ge­schich­te der Tren­nung: Mann ver­sus Frau, Geist ver­sus Kör­per, ich ver­sus Welt, sün­dig ver­sus hei­lig, gut ver­sus schlecht.

Im Buch «Kogi – Wie ein Na­tur­volk un­se­re mo­der­ne Welt in­spi­riert» von Lucas Buch­holz steht: «Feh­len­de Wert­schät­zung für­ein­an­der geht ein­her mit feh­len­der Wert­schät­zung für das Land und um­ge­kehrt. Eben­so ent­spricht die Un­fä­hig­keit, das Hei­li­ge im an­de­ren an­zu­er­ken­nen, einer Un­fä­hig­keit, Hei­li­ge Orte zu sehen. Wenn wir vom Land neh­men, ohne dem Land etwas zu­rück­zu­ge­ben, dann tun wir dies in un­se­ren zwi­schen­mensch­li­chen Be­zie­hun­gen auch …» (Mama José Ga­bri­el).

2000 Jahre Un­gleich­heit las­sen sich nicht ein­fach so aus­ra­die­ren, sie las­sen sich je­doch be­wusst ma­chen, bre­chen und um­keh­ren. Eben dazu braucht es Denk­mä­ler, die zum Nach­den­ken an­re­gen, an­statt un­hin­ter­fragt tra­dier­te Nor­men zu ze­men­tie­ren.

Wir fin­den es wich­tig, auf die zer­stö­re­ri­schen Aspek­te von Er­obe­rung, Aus­beu­tung, Skla­ve­rei, Kir­che und Re­li­gi­on hin­zu­wei­sen, weil deren fa­ta­le Fol­gen bis heute noch nicht ge­nü­gend ge­se­hen wer­den. Wir glau­ben, dass im Be­wusst­sein der Mensch­heit be­reits das neue Ver­ständ­nis von Ganz­heit an­ge­legt ist. Wir möch­ten etwas sicht­bar ma­chen, das in diese neue Welt weist.

Jeder Mensch trägt un­ter­schied­lich aus­ge­präg­te männ­li­che und weib­li­che Aspek­te in sich. Jeder Mensch ist so­wohl Kör­per als auch Geist. Jeder Mensch ist un­trenn­bar ver­bun­den mit der Welt, in der sie/er lebt. Wer das weiss, lebt und ver­in­ner­licht hat, «nimmt» sich nicht so her­aus, wie es Bru­der Klaus getan hat, ohne un­be­dingt einen Aus­gleich schaf­fen zu wol­len. Der Aus­gleich, den Klaus hätte schaf­fen müs­sen, wäre so auf­wän­dig ge­we­sen, dass er da­nach we­ni­ger Zeit ge­habt hätte für Ein­sie­de­lei, Mys­tik und die Aus­bil­dung ein­zig sei­nes ei­ge­nen Geis­tes.

Die ge­sell­schaft­li­che An­er­ken­nung hatte Bru­der Klaus auf sei­ner Seite, schliess­lich han­del­te er als Mann «zeit­ge­mäss». Do­ro­thee hin­ge­gen er­hält bis heute An­er­ken­nung für ihr stil­les, ar­beit­sa­mes und duld­sa­mes Da­sein. Als «hei­lig­mäs­si­ge Frau» (Papst Jo­han­nes Paul II), die sich selbst ver­gass und somit auf ihre «Ganz­heit» ver­zich­te­te, soll sie uns Vor­bild sein.

Wir müs­sen uns und die Welt als Gan­zes be­grei­fen. Geben wir Klaus und Do­ro­thee die Chan­ce, heute einen Aus­gleich zu schaf­fen. Wir möch­ten sie zu die­sem Zweck zu­sam­men­füh­ren. Beide sol­len bei der Kir­che ste­hen. Zwi­schen den bei­den ent­steht ein Ri­tu­al­platz. Ein klei­ner Schrein. Der Schrein ist rund wie eine Scha­le. Für die zehn Kin­der sind sym­bol­haft zehn Krei­se auf den Boden ge­malt. Be­su­chen­de kön­nen in den Kreis tre­ten und an Stel­le der Kin­der Fra­gen an Do­ro­thee und Ni­ko­laus rich­ten. Mög­li­che Fra­gen sind:

  • Mut­ter, hast du wahr­haft dein Leben ge­lebt? Mut­ter, was waren deine Wün­sche und Be­dürf­nis­se? Mut­ter, was glaub­test du wirk­lich?
  • Mut­ter, könn­test du es er­tra­gen, mich in dei­ner Si­tua­ti­on zu sehen? Vater, wes­halb hast du dich von mir ab­ge­wen­det?
  • Vater, warum such­test du Gott und hast das Gött­li­che in mir über­se­hen? Vater, wie wür­dest du heute einen Aus­gleich für dein Han­deln schaf­fen?

Diese Fra­gen sind wie eine Ver­zie­rung ent­lang der Scha­len­kan­te ein­gra­viert. Die Scha­le ist über­dacht und damit vor Regen ge­schützt. Sie ist mit Sand ge­füllt. Be­su­chen­de kön­nen Ker­zen an­zün­den und in den Sand ste­cken. Wer sich in­spi­riert fühlt, schreibt Ant­wor­ten zu den Fra­gen auf klei­ne Zet­tel­chen, die in einer Box be­reit lie­gen. Die Ant­wor­ten kön­nen in der Scha­le ver­brannt wer­den, in einem ri­tu­el­len Akt. Dies tut jeder Mensch für sich al­lein. Alle sind dazu ein­ge­la­den, am Schrein mit den an­we­sen­den Men­schen ins Ge­spräch zu kom­men.

Die Fra­gen und Ant­wor­ten haben ex­em­pla­ri­schen Cha­rak­ter. Sie ste­hen für den Teil un­se­res kul­tu­rel­len Erbes, unter dem wir heute noch lei­den: ab­we­sen­de Väter, al­lein­er­zie­hen­de Müt­ter, pas­si­ve und duld­sa­me Frau­en, Schuld­ge­füh­le, tra­dier­te Rol­len­bil­der, Un­ge­rech­tig­keit, Aus­beu­tung, Ent­fer­nung von der Natur, Er­obe­rung, Krieg. Der Ur­sprung allen Schmer­zes ist der­sel­be und bis heute tra­gen viele ihre in­di­vi­du­el­le Wunde davon. Hier braucht es An­er­ken­nung, Hei­lung und Wie­der­gut­ma­chung. Wir schaf­fen einen ri­tu­el­len Hei­lungs­raum, wo wir uns, in der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Schmerz von Do­ro­thee, Ni­klaus von Flüe und deren Kin­dern, un­se­rem ei­ge­nen Schmerz hei­lend zu­wen­den. Weg von der Op­fer­hal­tung, hin zur Selbst­er­mäch­ti­gung.

Quel­len

Beau­voir de, Si­mo­ne (erst­mals 1949): Das an­de­re Ge­schlecht. Sitte und Sexus der Frau (roro­ro Ta­schen­bü­cher 6621).

Buch­holz, Lucas (2019): Kogi – Wie ein Na­tur­volk un­se­re mo­der­ne Welt in­spi­riert, Neue Erde Ver­lag.

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